Zum Inhalt springen

Welcome to my Ghost World | Kapitel 1

Danke für die ersten 1000 Euro beim Crowdfunding! Hier das erste Kapitel aus Welcome to my Ghost World – noch unlektoriert und korrigiert (es kann also sein, dass hier und da noch ein Fehler steckt). Content Notes findet ihr hier.


Von oben betrachtet, sehen die Anderen echt bescheuert aus. Ich starre auf sie herab, wie sie in der Kälte stehen, Dunstwolken ausatmen, nicht ahnend, dass sie beobachtet werden.
Neid breitet sich in mir aus. Er füllt meine Adern und verteilt sich in meinem gesamten Organismus. Gerne wäre ich wie sie. Alles egal, außer mir selbst.
Nur Schule, Volleyball, vielleicht ein süßer Kerl oder eine süße Kerlin. Kino, ein bisschen knutschen auf einer Party, Alkohol und das eine Top, das so heiß aussieht.
Das Ding ist, alles hat seinen Preis. Alles. Nicht alles wird in Euro gezahlt, aber bezahlt wird es. Irgendjemand zahlt immer.
Und wenn das verflucht heiße Top nur fünf Euro kostet, dann hat sich mit ziemlicher Sicherheit irgendwo auf der anderen Seite dieser Weltkugel jemand daran die Finger wundgenäht und dafür nicht mal genug Geld fürs Abendessen bekommen.
Was ist das für ein Scheiß?
Ständig tauchen Artikel in den Zeitungen auf von schlechter Tierhaltung, Krankheiten, Notschlachtungen. Das alles damit der Burger nur ein paar Euro kostet. Aber weil ich unbedingt eine vegane Alternative möchte, bin ich unangenehm? Als sei ich das Problem. Mach dich mal locker, sieh drüber hinweg.
Trust me, I tried. Aber es hängt nun mal alles zusammen. Und anders als einen kaputten Fahrradreifen kann man diese Welt halt nicht einfach gegen eine neue, unverbrauchte austauschen. Aber ja, du Otto, schmeiß ruhig dein Tetra Pak in die Büsche.
Verärgert knibble ich den dunklen Nagellack von meinem Daumennagel.
Den Drang unterdrückend nach draußen zu gehen und dem Blödmann seinen Müll in den Rachen zu stopfen, rutsche ich von der Fensterbank und mache mich daran ein paar der Buchkarteikarten in den Computer zu übertragen. Nach tausend Jahren ist diese Schule nun auch endlich auf den Zug der Digitalisierung aufgesprungen.
„Hey Lesbos!“
Ich reagiere bewusst nicht, auch wenn ich genau weiß, dass der rufende Scheißkerl mich meint. Die einzig gebührende Reaktion wäre natürlich ihm direkt eins in seine dämliche Visage zu geben, aber das kommt weder bei der Rektorin noch bei meinen Mas besonders gut an.
„Lesbos! Schau her, wenn ich mit dir rede, verflucht.“
Genervt speichere ich den Eintrag, schiebe die Karte zur Seite und greife nach der nächsten. Mark Hornochse Wieber steht in der Tür und gibt einen gellenden Pfiff von sich, der in den Ohren ziept und mich kurz zucken lässt.
„Na also, bist ja doch nicht taub.“
Ignorier ihn, er ist nicht da, rede ich mir beruhigend zu.
Mark scheint keine Geduld mehr zu haben, denn im nächsten Augenblick klatscht ein Trinkpäckchen auf den Schreibtisch und bespritzt mich und den Computer mit Kakao. Ungehalten springe ich vom Stuhl auf, starre Mark wütend an.
Der steht lachend wie ein Troll da und hebt Zeige- und Mittelfinger vor den Mund wie ein V, lässt seine Zunge dazwischen hin- und herschnellen.
„Verpiss dich, Wieber“, blaffe ich ihn an.
Er grinst nur wie ein Vollföhn, wartet darauf, dass ich ihm einen Grund gebe, mich weiter nerven zu können. Auch wenn er das allein durch die bloße Tatsache schafft, dass vor etwa achtzehn Jahren irgendwo Herr und Frau Wieber, die verhängnisvolle Entscheidung getroffen haben, kein Gummi benutzen.
Es läutet zur nächsten Stunde und im Gebäude verschiebt sich deutlich der Geräuschpegel.
Wieber greift in seinen Rucksack und zieht ein Magazin hervor. „Grüß deine Muttis von mir“, sagt er und wirft es in meine Richtung. Flatternd fliegt das Magazin durch die Luft, ehe es aufgeschlagen vor meinen Füßen landet und mir eine Doppelseite mit zwei Frauen präsentiert, die nackt nicht schultaugliche Dinge machen. Lachend verschwindet Mark im Strom der anderen Schülerinnen und Schüler, die sich im Gebäude ausbreiten. Ich wende mich ab, um die Kakaosauerei aufzuwischen. Die Taschentücher werfe ich zusammen mit dem Sexmagazin in die Mülltonne.
Der Vorteil Aufsichtsperson der Schulbücherei zu sein ist, dass ich nach den Pausen etwas verspätet zum Unterricht erscheinen darf. Heute nutze ich es aus. Nachdem ich abgeschlossen habe gehe ich nicht zum Klassenzimmer, sondern zum Schulparkplatz. Der Parkplatz, auf dem Mark Wiebers Polo steht. Wie neu, natürlich von Papa und Mama bezahlt – alles für ihren kleinen Goldjungen.
Ich lasse den Schlüssel der Bücherei an meinem Finger schwingen, spaziere um das Auto herum und streichle mit der anderen Hand über den schwarzen Lack. So sauber, unberührt. Ich werfe einen Blick über die Schulter, prüfe, ob ich allein bin und bei meiner zweiten Umrundung ziehe ich statt meines Fingers den Schlüssel über den Lack des Autos. Er hinterlässt eine vollkommen perfekte helle Linie in dem bis dato unbeschadeten schwarzen Lack. Befriedigung durchströmt meinen Körper, angenehm, wie ein Sommerregen nach einem drückend heißen Tag. Erfüllt gehe ich zurück ins Gebäude.
Blödes Arschloch.

Im Klassenzimmer bearbeite ich den Rand meines Blockes sehr intensiv mit einem schwarzen Filzstift. Der Geruch des Stifts überdeckt ein wenig den Duft unserer Schulgefangenschaft: billiges Deo und feuchte, verbrauchte Luft.
Malen, malen, malen. Alles auf dem Papier muss dunkel werden. Alles. Paint it black. Ich spare nur die Worte aus, die meine Hausaufgaben sein sollen. Eigentlich sind sie ein wütendes Statement zur zigsten Interpretation eines Textes von irgendeinem toten alten weißen Mann. Interpretationen, die in der Regel mit dem Kommentar „am Thema vorbei“ und entsprechender Note versehen werden.
Herr Rüttger schleicht durch die Reihen und teilt die Tests der letzten Stunde aus. Hier und dort hält er einen Augenblick inne, um ein-zwei Sätze zu wechseln. Aufbauende Worte, tröstende Worte, beglückwünschende Worte. Worte, die die empfangende Person aufbauen sollen, beim nächsten Mal bessere Arbeit abzuliefern. Auch bei mir bleibt er stehen, als er den Test vor mir ablegt. Ich mache mir nicht mal die Mühe, die Seiten umzuschlagen, um nach meiner Note zu sehen.
„Luisa.“
Die Art wie er meinen Namen sagt, reicht um, mich wissen zu lassen, dass meine Note auf keinen Fall im oberen Sechstel liegt. Es ist mir egal. Diese ganze Idee eines Schulsystems, das so veraltet ist, dass man schreien möchte, interessiert mich einfach nicht mehr. Was nützt es mir zu wissen, was irgendein Hans-Wurst drölfzigtausend Jahre vor meiner Existenz geschrieben hat? Mit ziemlicher Sicherheit war es rassistisch, sexistisch oder beides und sollte nicht mehr nennenswert sein. Trotzdem sind die Bücher voll mit diesem und anderen Hans-Wursten und wir werden immer noch mit deren Existenz und Werken belästigt.
So in etwa habe ich es auch im Test formuliert.
„Luisa“, wiederholt Herr Rüttger mitfühlend, als habe ich mir das Knie aufgeschlagen. Ich blicke kurz auf, denn Autoritätspersonen neigen dazu grantig zu werden, wenn sie nicht hundertprozentige Aufmerksamkeit bekommen. Als könnte ich nicht gleichzeitig meinen Block bemalen und zuhören. Ich bin Generation Z, aufgewachsen mit täglicher Beschallung durch Fernsehen und Internet. Wenn ich eins kann, dann zuhören, während ich irgendetwas anderes dabei tue.
„Was war denn los?“
Jetzt geht er sogar in die Knie, ist auf Augenhöhe mit mir und erwartet doch tatsächlich, dass ich ihm erkläre, was ich ihm ohnehin schon in dem Test erklärt habe. Ich seufze und lege meinen Stift beiseite, damit es schneller vorbei ist.
„Nichts“, murre ich.
„Warum dann diese Art der Rebellion?“
Innerlich seufze ich noch mal. Diese Art der Rebellion. Wie er das schon sagt. Schreien möchte ich. So richtig laut schreien. Diese Art der Rebellion ist nötig, weil ja offenbar niemand in nennenswerter Position erkennt, dass die Lehrthemen veraltet sind. Dass diese dringend überdacht und überarbeitet gehören. Er ist Lehrer. Sollte er nicht klug sein?
„Im Grunde stimmt, was du schreibst. Trotzdem ist es keine präzise Antwort auf die Aufgabenstellung. Ihr solltet seine Lebensleistungen darlegen. Nicht ihn denunzieren.“
„Nun ja“, jetzt sehe ich Herrn Rüttger in die Augen. „Um ihn denunzieren zu können, muss man sich auskennen, oder nicht?“
Rüttger sagt nichts. Er weiß, was kommt, und will mir keine Argumente liefern. Keine Bestätigung.
„Sie können am Text also erkennen, dass ich mich auskenne und beschäftigt habe. Dann bewerten Sie das doch einfach.“
„Luisa, du hast die Aufgabe nicht erfüllt. Ich kann ein Auge zudrücken, weil du durchaus Bescheid weißt, dich offensichtlich informiert hast. Aber das reicht nicht.“
Ich richte meinen Blick wieder auf meinen Block. Starre das Schwarz an und drehe den Filzstift zwischen meinen Fingern. Ungeduldig darauf wartend endlich mit meiner Arbeit fortzufahren.
„Du bist so klug, Luisa.“ Herr Rüttgers Stimme ist leiser geworden, was mich unmittelbar zur Weißglut bringt. „Warum vergeudest du das?“
„Das tue ich nicht“, presse ich hervor.
Herr Rüttger hockt noch einen Moment vor mir, als warte er auf eine Entschuldigung oder ein demütiges Versprechen nach Besserung. Was er natürlich nicht bekommt. Er erhebt sich und ich glaube ihn seufzen zu hören.
„Das muss unterschrieben werden“, sagt er und tippt mit dem Finger auf meinen Test, ehe er weiter durch die Reihen schleicht.„Meinetwegen“, brumme ich leise, schiebe den Test beiseite und kann endlich weiter die Schwärze auf meinem Block verteilen.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei
2 Comments
Inline Feedbacks
View all comments

[…] Ihr seid so krass! 2000 Euro habt ihr an diesem Wochenende beim Crowdfunding geknackt. Wow, wow, wow – einfach sprachlos. Vielen, vielen Dank! (Hier geht’s zu Kapitel 1.) […]

[…] Bei Kapitel 1 anfangen. Hier geht’s zu den Content Notes. […]

Cookie Consent mit Real Cookie Banner